Foto: I „Prolog / Dionysos“ mit Carlo Ljubek © Monika Rittershaus Text:Detlev Baur, am 16. September 2023
Zwei Jahre lang haben Autor Roland Schimmelpfennig und das Deutsche Schauspielhaus Hamburg das große Antikenprojekt „Anthropolis“ vorbereitet. Nun sind die fünf Stücke einzeln oder an „Marathon“-Wochenenden zu sehen. Das Publikum ist hingerissen.
Antigone ist eine Rebellin, sie begehrt auf gegen den eigenen Onkel, den Alleinherrscher des Stadtstaats. Sie widersetzt sich damit dem Gesetz, dass der gefallene Bruder, der Angreifer gegen die Stadt, nicht begraben werden dürfte. Die „Antigone“ des Sophokles konzentriert auf übersichtlichen 1375Versen, die in weniger als zwei Stunden gespielt sind, zahlreiche gesellschaftliche Grundkonflikte: Einzelne:r gegen die Gesamtheit, Frau gegen Mann, Jung gegen Alt, Götter gegen Staat. Nicht von ungefähr ist das Stück nach Büchners „Woyzeck“ der meistgespielte Klassiker dieser Saison.
Am Ende sind alle tot, und der Chor resümiert die Lage mit: „Gewaltig ist vieles / doch nichts ist gewaltiger / als der Mensch.“ In der Uraufführung von Roland Schimmelpfennigs neuer Übertragung am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg trägt die Chorsprecherin Ute Hannig den Körper der toten Antigone, während sie diese zentralen Verse spricht, ein starkes Bild des fragil-machtvollen Wesens Mensch. Die Hauptfigur war zuvor in der Darstellung von Lilith Stangenberg als ungeheuer agil aufbegehrende Kämpferin erschienen. Schließlich betritt noch einmal der blinde, bis dahin immer wieder erfolglos warnende Seher Teiresias (Michael Wittenborn) die Bühne und beschreibt Straße und Hitze, den Schauplatz Theben, mit Worten, mit denen er etwa neun Stunden und vier Inszenierungen zuvor den Reigen eröffnet hatte — so schließt sich der Bogen.
Struktur und Personal
„Anthropolis“ heißt das große Projekt des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, das in fünf Dramen die Geschichte der griechischen Tragödienhauptstadt Theben systematisch und in chronologischer Reihenfolge präsentiert. Roland Schimmelpfennig hat dafür in drei Stücken antike Vorlagen – vor „Antigone“ sind das „König Ödipus“ und zuvor „Die Backchen“ – neu übersetzt und außerdem in zwei Stücken die Vorgeschichten quasi aufgefüllt. Unmittelbar vor der „Antigone“ findet der Angriff von Antigones Bruder Polyneikes auf die Heimatstadt Theben statt, im selben gewaltvollen Moment tötet er seinen Bruder Eteokles, wie dieser ihn selbst umbringt. Dieser tödliche Bruderkampf ist eine Folge der familiären Verwüstungen im „König Ödipus“.
In loser Anlehnung an „Sieben gegen Theben“ von Aischylos und „Die Phönizierinnen“ des Euripides hat Schimmelpfennig dieses Zwischenstück selbst geschrieben und unter dem Titel „Iokaste“ die Mutter der verfeindeten Brüder als Titelfigur ins Zentrum gestellt. Julia Wieninger versucht immer wieder in einer Dauerschleife, die Brüder (Paul Behren und Maximilian Scheidt) am Tisch in eine Friedensverhandlung zu bringen; doch die Positionen der sich sehr ähnlichen Brüder scheinen unversöhnlich. Mit vergleichsweise wenig Dynamik veranschaulicht Karin Beiers Inszenierung, wie menschlich-männlicher Starrsinn zu einer kriegerischen Auseinandersetzung führt, und verdeutlicht das anhand einer Familie, am Leiden einer Mutter. Allerdings ist Iokaste selbst auch kein unbeschriebenes Blatt in der Gewaltspirale des thebanischen Herrschergeschlechts. Gemeinsam mit ihrem Mann Laios – und damit sind wir beim Stück vor „König Ödipus“ – hat sie die Füße des Sohnes verletzt und ihn in der Wildnis aussetzen lassen, bevor er dem Orakelspruch gemäß seinen Vater töten und die Mutter ehelichen kann.
In „Laios“ fasst Schimmelpfennig also die Vorgeschichte des „Ödipus“ zusammen. Dies gelingt ihm, ähnlich wie schon im Prolog zu Beginn der Pentalogie und hier ohne Bezug auf ein erhaltenes Stück der antiken Tragödiendichter, in suchenden freien Versen ohne Sprecherzuteilung. Lina Beckmann bestreitet diesen zweiten Teil der Stückfolge über anderthalb Stunden ganz alleine. Damit gelingt dem ambitionierten Projekt hier mit einer einzigen Schauspielerin auf einer fast leeren, ausdrücklich provisorisch eingerichteten riesigen Bühne (Johannes Schütz) der Höhepunkt des Spiels vom ambivalenten, gewaltigen Wesen Mensch.
Im Auftaktstück „Dionysos“ macht die Regie der Intendantin noch von großen Effekten wie Taiko-Trommeln und einem echten Schimmel des Königs Pentheus (Kristof Van Boven) auf der Bühne wirkungsvollen, aber das Publikum auch überrumpelnden Gebrauch; und im „Laios“ nachfolgenden „König Ödipus“ agiert ein großer, jedoch etwas isoliert wirkender Chor aus dem Rang heraus und stellt die Verbindung von Zuschauerraum und tragischem Bühnengeschehen im fernen Theben eher oberflächlich her. Lina Beckmann dagegen gelingt in ihrem gigantischen Solo, engen Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen: über ihr variables und intensives Spiel und die Einbeziehung der Zuhörer:innen mit Wort und Blick.
Scheinbar mühelos füllt Lina Beckmann das große Schauspielhaus und vermittelt dabei eine Geschichte, die ganz klar nicht ist; lustvoll weist sie auf Variationen und Unsicherheiten in der Geschichte des Laios auf dem Weg in seine alte neue Heimat Theben hin, entwickelt dabei Assoziationen zum aus „König Ödipus“ bekannten, für Laios tödlichen Zusammentreffen des Ödipus mit Laios am Dreiweg. Die monologische, einerseits konkret beschreibende, andererseits episch-dramatische Vorstellungsräume eröffnende Sprache des Dramatikers Schimmelpfennig verbindet sich ideal mit der klugen Spielfreude der Ausnahmedarstellerin. In Diskussionsbeiträgen des durch Stabmasken angedeuteten, von Beckmann im rasanten Wechsel mitgespielten Chores mit dem neuen Herrscher gerät dabei das zentrale Thema von Machtausübung und Staatsform ins Zentrum. Gerade dieses Solospiel erzählt zeitlos viel über gesellschaftliche Mechanismen.
Die Qualität dieser Serie
Der mehrteilige Text von Roland Schimmelpfennig gestaltet aus diversen antiken Tragödien und Überlieferungen zum Geschlecht der Labdakiden ein homogenes Großdrama, ohne gewaltsam die Tradierungen umzubiegen. Im Prolog lässt er kritische Stimmen zum Wert dieses klassischen Materials ebenso zu Wort kommen, wie er besonders in „Laios“ die Offenheit der Überlieferung positiv zum Thema macht. Die Distanz zum Heute ist Teil des Werks. Der Autor versucht nicht – wie Thomas Freyer in seiner bemerkenswerten Umschreibung des „Ajax“, die jüngst am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt wurde –, antike Überlieferung mit Figuren von heute kurzzuschließen, sondern überlässt dem Publikum seine Verbindung zum Geschehen selbst.
Karin Beiers Inszenierung schöpft mit einem hochkarätigen Ensemble aus dem Vollen, wechselt souverän zwischen theatralem Effekt und dramaturgisch geschickter Konzentration auf sprachliche Momente. Die Einbindung der bekannten tragischen Held:innen Ödipus und Antigone in einen größeren genealogischen Zusammenhang und die Aufwertung anderer Figuren markiert die Besonderheit von „Anthropolis“. So entsteht im auch als Buch erschienenen Text Schimmelpfennigs und in Karin Beiers Inszenierung eine Art Paralleldrama zur „Orestie“ des Aischylos.
Diese einzig erhaltene Tragödientrilogie der Antike – „König Ödipus“ und „Antigone“ wurden von Sophokles zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben – überwindet am Ende die blutige Familiengeschichte der Atriden mit dem Beginn der Demokratie. Dies hat Peter Steins ikonografische Inszenierung (in den 1980ern an der Schaubühne) geprägt. „Dionysos Stadt“ von Christopher Rüping (2018 an den Münchner Kammerspielen) bot gar eine Einbettung der „Orestie“ in die Vorgeschichte des thebanischen Krieges, sie berührte durch das Zusammenspiel eines eingeschworenen Ensembles.
Karin Beiers fünfteilige Inszenierung bietet in Form von Wochenendmarathons einen Blick auf das Gesamtwerk an, kann aber auch in Einzelstücken besucht werden. Diese unaufdringliche Präsentationsform scheint beim Hamburger Publikum bestens anzukommen. Bei aller Drastik der Geschichten um göttliche Vergewaltiger, Drachentöter, Kindsmörderinnen oder Vatermörder bietet der Text Ordnung im Chaos. Durch das Stiften von Zusammenhängen entsteht hier paradoxerweise eine Art von Sicherheitsgefühl in einer immer fragiler erscheinenden Welt.
Das schönste Bild schafft Bühnenbildner Johannes Schütz vielleicht im „Ödipus“: Da sitzen Devid Striesows Ödipus, ein auch komisch aufbrausender Richter seiner selbst, und Karin Neuhäuser als spöttische Chorfigur oder Michael Wittenborns Seher im großen Bilderrahmen vor einer weiten Bühne, rauchen und sind ratlos. Dieser Rahmen um die blutige Selbsterkenntnis des Mannes, der erst als Blinder sein Schicksal durchschaut, lässt seine Tragödie nicht nur gut aussehen, sondern verschafft uns Zuschauer:innen eine erleichternde Distanz zum Grauen.