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Die Kinobranche hat noch immer mit den Folgen der Coronakrise zu kämpfen, erholt sich aber und gewinnt Publikum zurück. Zwar schwächelten die Superhelden , dafür sorgte der Barbenheimer-Hype für volle Säle. Eine Reihe von Filmen mit sehr starken Frauenfiguren gewann wichtige Filmpreise. Und angesichts einer Weltlage mit vielen Krisen und mehreren Kriegen wird der Dokumentarfilm immer relevanter. Das waren die besten Filme des Jahres:
»Anatomie eines Falls«
Wie bewirbt man einen so grandiosen Film wie »Anatomie eines Falls«? Die beste Lösung fand kürzlich ein Londoner Kino. Statt der Goldenen Palme, die Regisseurin Justine Triet in Cannes gewann, oder des euphorischen Kritikerlobs schrieb das Kino schlicht ein Zitat aus dem Film auf seine Tafel: »I am innocent. You know that, right?«
Es sind die Drehbuchzeilen des Jahres, vorgetragen von der Schauspielerin des Jahres. Sandra Hüller spielt in »Anatomie eines Falls« eine Frau, die des Mordes an ihrem Ehemann angeklagt ist. Doch die Beweislage ist uneindeutig, weshalb das Urteil – sowohl des Gerichts als auch des Publikums – davon abhängt, wem man was mehr zutraut: dem depressiven, larmoyanten Ehemann den Suizid oder der dominanten, manipulativen Ehefrau den Mord.
In ihrem vierten Spielfilm führt die Französin Triet Justizthriller und Beziehungsdrama zusammen und entsorgt dabei die großen Klischees beider Genres. Kein Ermittler sagt einem, wann man Zweifel an den Aussagen der Angeklagten haben sollte, und kein großer Ehestreit stellt Sicherheit darüber her, mit was für einer Beziehung wir es hier zu tun hatten. Das ist nahezu perfektes Kino. Hannah Pilarczyk
»Die Fabelmans«
Man sollte besser auf seine Mutter hören. Das musste Steven Spielberg erkennen, als er eines Tages endlich seinen Film »Die Fabelmans« in Angriff nahm. Denn seine eigene Mutter Leah Adler hatte ihm schon lange in den Ohren gelegen, er solle mal ein Familienepos über die Spielbergs drehen: »Steven, du musst einen Film über uns machen, wir liefern dir so tollen Stoff.«
Gesagt, Jahrzehnte später getan: »Die Fabelmans«, der von der Kindheit und dem Erwachsenwerden des Regisseurs in den Fünfziger- und Sechzigerjahren handelt, ist nicht nur eine großartige Hommage an die 2017 verstorbene Mutter geworden, sondern auch eine aberwitzige Komödie, ein packender Thriller und eine berührende Künstlerbiografie. Dem inzwischen 77-jährigen Regisseur ist ein Film voller Empathie und Herzenswärme gelungen, der dem Zuschauer zweieinhalb Stunden lang das beglückende Gefühl gibt, zu einer ganz besonderen Familie zu gehören. Lars-Olav Beier
»Killers of the Flower Moon«
Martin Scorsese ist heute so etwas wie das personifizierte Kino. Er kümmert sich um die Restaurierung von Klassikern und bemüht sich, das Bewusstsein für die Filmgeschichte am Leben zu erhalten. Er äußert deutlich seine Meinung zu aktuellen Produktionen, etwa seine Verachtung für Superheldenfilme. Und er hat mit 81 Jahren einen Punkt in seiner Karriere erreicht, an dem kein Budget zu groß und kein Epos zu lang erscheint – finanziert ausgerechnet, Ironie der Geschichte, von Streamingdiensten. Nur einen Film, der die hohen Erwartungen des Publikums wirklich befriedigt hätte, lieferte er schon lange nicht mehr.
2023 war es endlich so weit: »Killers of the Flower Moon« ist doch noch das Meisterwerk, auf das man schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte. Zugleich elegischer Spätwestern und Thriller über die Frühgeschichte des US-Kapitalismus, ein so melancholischer wie messerscharfer Blick auf die Gier, die in den USA schon immer eine besondere kreative, aber auch menschenverachtende Energie entwickelte. Die bittere Diagnose, die Scorsese seinem Heimatland stellt, lässt für die Zukunft wenig Gutes hoffen. Aber wie er sie in Bilder bannt, die mehr sagen als Argumente – das weist ihn einmal mehr als einen Meister der Kunst aus, der er sein Leben gewidmet hat. Oliver Kaever
»Spider-Man: Across the Spider-Verse«
2023 wurde das Kinopublikum von einem mysteriösen Syndrom überfallen – Superhelden-Müdigkeit! Dass DC mit seinen Comic-Debakeln (u.a. »The Flash«) strauchelt, ist wenig überraschend, dass aber nun auch den erfolgsverwöhnten Konkurrenten Marvel das Glück verlässt, ist neu: Nach 15 Jahren und 33 Blockbustern hatten die Fans keine Lust mehr auf »The Marvels« – und sorgten für das bisher schmalste Einspielergebnis eines MCU-Films.
Sony jedoch, das Studio mit der Spider-Man-Lizenz, wies dem erschlafften Genre einen Weg aus der Krise – mit dem ästhetisch schönsten und mitreißendsten Superheldenfilm seit… na gut, seit dem ersten Teil der 2018 gestarteten »Spider-Verse«-Reihe. »Across the Spider-Verse« hat nicht nur die bisher größte (und kurioseste) Anzahl Spinnen-Helden (Spider-Punk, Peter Parkedcar, Spider-Man India usw.), sondern erzählt auch eine rührende, multidimensionale Teenager-Lovestory. Im Rückgriff auf die Comic-Ursprünge – Pinsel, Tusche, (digitales) Zeichenbrett – fand der Film einen putzmunter machenden Groove. Andreas Borcholte
»Für immer«
Mehr als 70 Jahre waren Eva und Dieter Simon ein Paar, die letzten fünf davon hat die Filmemacherin Pia Lenz sie mit der Kamera begleitet. Eva ist zu diesem Zeitpunkt schon krank, Dieter kümmert sich rührend um sie. Das, betont Eva, war nicht immer so. Viele Jahre lang hat ihr Mann sich eher aus dem Alltag mit Kindern zurückgezogen. Auch jetzt ist es Eva, die emotional und doch klar analysiert, zurückblickt auf ein gemeinsam verbrachtes Leben mit all seinen Brüchen, Narben, Verletzungen. Dieter bleibt der große Schweiger.
Herausgekommen ist ein selten intimer Blick auf eine Beziehung, der doch respektvoll Grenzen wahrt. Was bedeutet es, ein Leben zu teilen? Wie lässt sich die Distanz überbrücken, die immer bleibt, egal, wie viel Zeit man miteinander verbringt? Glücklicherweise hat Pia Lenz keinen filmischen Beziehungsratgeber gemacht; ihr Film »Für immer« verwandelt sich vielmehr in eine zarte Meditation über die Tatsache, dass eine Lebensgeschichte immer nur im Rückblick Kontur gewinnt, während die Gegenwart ein tastendes Suchen bleiben muss. Oliver Kaever
»Beau Is Afraid«
Weihnachten ist die perfekte Gelegenheit, um an diese grandiose und unverschämte Dreistundenzumutung zu erinnern, die im Barbenheimer-Getöse leider unterging. Denn an Weihnachten besucht man seine Mutter, genau wie es Titelheld Beau (viel besser als in »Napoleon«: Joaquin Phoenix) in Ari Asters kafkaesk-ödipaler Farce vorhat. Allerdings geht es um ihr Begräbnis, aber das könnte für den von Mutti multipel verstörten Sohnemann ein Festtag sein, wenn ihn nicht freudianische Albtraumszenarien davon abhielten, zum Friedhof (und zu innerem Frieden) zu gelangen.
Arthouse-Horror-Regisseur Ari Aster (»Midsommar«) lässt in seinem Meisterstück alle Hemmungen fahren: Den Haken schlagenden Plot stattete er mit Ästhetik-Brüchen (Theater! Animationssequenz!), Flachwitzen, Slapstick und Body-Horror aus, bis nicht nur Beau jeden Sinn für Realität verliert, sondern auch dem Zuschauer ganz blümerant wird. Aster nennt seine Psycho-Odyssee eine »anxiety comedy«, also eine Komödie über Urängste. Tatsächlich aber ist »Beau Is Afraid« einer der furchtlosesten Filme des Jahres. Andreas Borcholte
»Das Lehrerzimmer«
Die Frauen und Männer aus dem sogenannten Lehrkörper eines deutschen Gymnasiums streiten sich um den Umgang mit ihren Schützlingen und drängende politische Fragen – das ist die Grundidee des klug gebauten und berührenden Films, den der Regisseur Ilker Çatak mit der zarten, kämpferischen Schauspielerin Leonie Benesch in der Hauptrolle gedreht hat.
Benesch spielt eine frisch in den Beruf startende Lehrerin für Mathematik und Sport. Die Heldin ist abgestoßen von dem Zynismus, mit dem der Schulleiter (Michael Klammer) einen türkischstämmigen Schüler für Diebstähle in der Schule verantwortlich zu machen versucht. Deshalb ermittelt sie auf eigene Faust. Weil sie dabei fragwürdige Mittel anwendet und eine psychisch schwer angeschlagene mutmaßliche Täterin (Eva Löbau) bloßstellt, werden die Zuschauerinnen und Zuschauer bald mit vielen rechtlichen und moralischen Zweifeln konfrontiert.
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Çatak zeigt das Lehrerzimmer als Schlachtfeld zornig geführter gesellschaftlicher Diskurse, in dem unter anderem über Rassismus und Chancenungleichheit gestritten wird. Vor allem aber macht er die bedrückende Atmosphäre und das Gefühl der Hilflosigkeit spürbar, die heutzutage manchen Lehrenden den Job versauen. Die Genauigkeit der Dialoge und die Intensität der Darstellerinnen und Darsteller machen »Das Lehrerzimmer« zu einem Glanzstück des deutschen Kinos, das ganz zu Recht mit den Hauptpreisen für beste Regie, beste Darstellerin und besten Film bei der Verleihung des diesjährigen Deutschen Filmpreises bedacht wurde. Wolfgang Höbel
»Das Hamlet-Syndrom«
Jeder kämpft an seiner eigenen Front. Die ukrainische Schauspielerin Oxana ringt mit sich, ob sie ihr Land verlassen soll oder nicht. Roman hat als Sanitäter in der Ostukraine viel mehr Tod und Gewalt erlebt, als er verkraften konnte. Katya trug im Kampf um die von Russland besetzten Gebiete immer eine Handgranate bei sich, um sich im Fall einer Gefangennahme in die Luft sprengen zu können. Dies sind drei von insgesamt fünf Protagonisten, die in dem Dokumentarfilm »Das Hamlet-Syndrom« wenige Monate vor der russischen Invasion auf der Bühne eines Theaters in Kiew aufeinandertreffen.
Angeleitet von einer Theaterregisseurin versuchen sie, Worte und Gesten für ihre Erfahrungen zu finden, um sie mit den anderen zu teilen. Der Film ist ein soziales Experiment, in dem Menschen mit ganz verschiedenen biografischen Hintergründen die Grenzen zu überwinden versuchen, die zwischen ihnen bestehen. Der Film von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski erzählt packend und bewegend von den Versehrungen eines Krieges, der lange vor dem Februar 2022 begann. Lars-Olav Beier
»The Quiet Girl«
Die junge Darstellerin Catherine Clinch, die im Film des irischen Regisseurs Colm Bairéad die Titelrolle spielt, hat ein sensationell klares, ruhiges, blasses Gesicht. Es ist keine Angst, nur Beklommenheit, mit der die neunjährige Heldin den Erwachsenen beim Schwadronieren und Wehklagen zusieht. Im Irland des Jahres 1981 wird sie von ihren Eltern wegen der Armut ihrer vielköpfigen Familie für eine Weile bei entfernten Verwandten einquartiert. Ihre Gasteltern, eine freundliche Frau (Carrie Crowley) und deren verstockter Gatte (Andrew Bennett), leben auf einer Riesenfarm am Meer. Sie schleppen, so wird bald klar, ein Geheimnis mit sich herum.
Die Schönheit der hügeligen Gegend, den nahen Meeresstrand, aber auch den Schmutz und die Schufterei der Landwirtschaft erkundet Bairéads Film mit sanfter Neugier und fast meditativer Geruhsamkeit. Auch die Bosheit und manchmal wärmespendende Solidarität einer Dorfgemeinschaft kommt ans Licht. »The Quiet Girl« schildert die allmähliche wachsende Vertrautheit zwischen der jungen Heldin und ihren Gastgebern – und einen magischen Kindheitssommer, der voller Schrecken und überraschenderer Genüsse ist. Selten jedenfalls hat ein Kinoregisseur seinem Publikum so sinnlich überwältigend nahegebracht, welche Wohltat es sein kann, wenn ein ans Hungern gewohnter junger Mensch sich endlich mal satt essen darf. Wolfgang Höbel
»Pacifiction«
Sollte Gérard Depardieu nie mehr einen Film drehen, wäre es nicht allzu schade. Vor allem, weil sein übergriffiges Verhalten gegenüber Frauen und sogar Kindern mittlerweile gut dokumentiert ist. Aber auch, weil Benoît Magimel nun bereitsteht. Der 49-Jährige ist zum Darsteller für die Art von anziehend-abstoßenden Kippfiguren herangereift, von denen man bisher dachte, nur Depardieu könne sie verkörpern.
In »Pacifiction«, der lässigen cinephilen Großtat von Albert Serra, spielt Magimel den französischen Hohen Kommissar von Tahiti als Strippenzieher und Tölpel zugleich. Sein De Roller glaubt anfangs noch, den Überblick zu haben, was auf der und um die Insel herum vor sich geht. Doch dann werden die Gerüchte, dass Frankreich wieder Atomtests in der Region starten will, immer lauter. Was kann De Roller herausfinden, bevor er vor Kollegen und Inselbewohnern als ahnungsloser Platzhalter entblößt dasteht?
Als zerdehnten Thriller inszeniert Albert Serra diese Geschichte, lauernd in seiner Spannung und grotesk in seiner Schönheit. Im Februar in Deutschland gestartet, hält der einzigartige Bann von »Pacifiction« noch immer an. Hannah Pilarczyk